Vom Überleben zum Leben

Survive

Wenn der Beginn des Tages schon eine Herausforderung ist und die Energie für die täglichen Aufgaben kaum reicht, dann könnte es sein, dass du dich im Überlebensmodus befindest.

Vielleicht kennst du das auch? Du stehst auf und du fühlst dich unausgeschlafen weil du ständig wach geworden bist. Dein Partner hat einen Stress um zeitig zu einem wichtigen Arbeitstermin außer Haus zu kommen und dein Kind ist überfordert mit der Befüllung der Jausenbox, weil es eigentlich vollkommen nervös ist aufgrund einer bevorstehenden Schularbeit. Die Haustiere machen sich lautstark bemerkbar, weil der Hunger heute Morgen so groß ist als hättest du sie schon Tage lang nicht gefüttert. Endlich sind alle außer Haus und dein Tag mit deinen eigenen Herausforderungen beginnt. Ein Termin nach dem anderen. Die Kleidungsstücke der Kinder im ganzen Haus verteilt, der Haushalt schreit nach Zuneigung. Und dann meldet sich auch noch ein Elternteil und bittet um Hilfe.

Solche Tage sind keine einzelnen Fälle sondern mehr normal als selten. Und dann schickt dir eine Freundin ein Foto von einem total enspannten Retreat mit gutem Essen, einer total genialen Naturfoto. Vergönnen natürlich – Neid schleicht sich zwischen den Gedanken trotzdem ein.

Wenn ich mich umsehe, dann höre ich immer mehr von Menschen die mit ihren Aufgaben überfordert sind. Nicht nur Eltern auch Jugendliche und ältere Menschen. Es scheint als herrscht kollektive Erschöpfung.

Im Austausch mit KollegInnen sprechen wir immer öfter über Klienten die im absoluten Überlebensmodus stecken und dabei in ihrer Überforderung erstarren und nur mehr mit Müh und Not oder gar nicht raus kommen.

Auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, sich um sich selbst zu kümmern scheint fast unmöglich. Entweder ist der Leistungsdruck so hoch, der Freizeitstress erhöht, die Herausforderung im Familienkontext herausfordernd oder der eigenen Perfektionismus ganz stark. Bei all diesen Dingen steht eines fest: der Glaubenssatz „Zuerst schaue ich was die Umwelt von mir braucht und dann erst schaue ich was ich brauche.“ ist ganz fest verankert und wird durch und durch gelebt.

Doch woher stammt dieser? Dies hat seinen Ursprung in der Kindheit.
Unsere Eltern und Großeltern sind Kinder der Kriegs oder Nachkriegszeit. In dieser Zeit ging es Vorrangig ums Überleben und um den Wiederaufbau. Dabei spielten Emotionen und eigenen Bedürfnisse wenig bis keine Rolle. Die Bedürfnisse waren existentiell und schrenkten sich auf Nahrung und ein Dach übern Kopf ein.

Wenn Eltern sehr mit sich selbst beschäftigt sind, mit der eigenen Unzufriedenheit, Herausforderung oder Not, dann spüren das Kinder.

Und da Kinder als einziges Säugetier sehr lange abhängig von deren Eltern sind, da sie sich lange Zeit selbst nicht versorgen können, sind sie sehr darauf bedacht, das Wohlergehen der Eltern oder „Versorger“ zu sichern. Denn diese sichern das Leben der Kinder. Das klingt jetzt sehr pragmatisch, faktisch ist es so. Natürlich gibt es da auch noch die Liebe und das Zugehörigkeitsgefühl.

Sind die Eltern im Überlebensmodus oder stark gefordert, dann lernt das Kind schon im Kleinkindalter sich nach den Bedürfnissen der Eltern zu richten und die eigenen hinten an zu stellen. Oder wenn die Eltern die Bedürfnisse der Kinder als weniger wichtig sehen, sie nicht wahrnehmen können oder damit überfordert sind, dann lernt das Kind auch, dass seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden können. So entsteht eine verdrehte Wahrnehmung oder eine Art „Fehlinterpretation“. Dieses Muster prägt sich tief ein und der Glaubenssatz: „Zuerst du, dann ich.“ hat eine tiefe Synapse gebildet und es wird danach unbewusst gehandelt.

Dies kann sich im Jugend und Erwachsenenaltern in einem Rahmen halten oder aber auch über diesen Rahmen hinausgehen. Wir alle haben ein eigenes Fenster der Möglichkeiten oder auch das „Window of Tolerante“ genannt. Bei manchen ist dies größer, bei anderen wiederum enger. Befinden wir uns in diesem Fenster, dann können wir noch handeln.

Befinden wir uns darüber, dann sind wir in unserem natürlich angelegten „Kampf- oder Fluchtmodus“. In diesem Bereich sind wir stark im „müssen“.

Arbeiten müssen, Hausarbeit machen müssen, Sport machen müssen, Essen müssen, eine Freundin treffen müssen, die Mutter besuchen müssen, das Unkraut jäten  müssen.. usw. Auch hier kann der eine oder andere lange und gut damit umgehen weil er oder sie es gewohnt ist.

Aber auch hier gibt es eine Grenze die überschritten werden kann und dann, dann kann man nicht mehr.

Dann fehlt die Energie, dann wird es mühsam, dann möchte man sich nur noch zurück ziehen und in Ruhe gelassen werden. Dann werden soziale Kontakte als anstrengend empfunden und vermieden. Oder die kleinste Kleinigkeit bringt das schon gefüllte Fass zum überlaufen und man ist ständig gereizt oder wütend bis aggressiv.

All das ist anstrengend und macht das Leben unlebenswert. Die Lebensqualität sinkt und die Freuden und Glücksgefühle schwinden. Manchmal werden sie sogar gar nicht mehr gesehen. Und dann sind vielleicht die Körper Symptome immer lauter und Schmerzen, Beschwerden oder gar Krankheiten machen sich stärker bemerkbar. Weil der Körper schreit. Er schreit und lechzt danach, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle wahr zu nehmen und zu achten.

Doch all das muss nicht so weit kommen!

Dein Körper und du als Ganzes hast nur dieses einzige Leben, diesen einzigen Körper. Der ist nicht wie eine Maschine auswechselbar. Arbeite mit ihm zusammen und höre auf dessen Signale. Lerne deine Grenzen wahr zu nehmen. Achte auf deine Bedürfnisse und höre dir zu.

Welche Wünsche hast du? Wie möchte du dein Leben verbringen?

Lerne dich kennen. Werde dadurch handlungsfähig und folge deinem Fokus. Niemand da draußen hat eine Berechtigung zu wissen was dir gut tut und was du brauchst! Es gibt kein Richtig oder Falsch, welches für jeden gilt.

Beginne in kleinen Schritten. Was bereitet dir Unwohlsein? Und in welchen Bereichen kannst du noch, wo musst du und wo kannst du nicht mehr? Was ist dir wichtig und was unwichtig? Was möchtest du und was willst du gar nicht mehr? Was interessiert dich und wo erlebst du Entspannung oder gar Freude? Was sind deine Ressourcen?